„Alles ist politisch“: Vorurteile als gesellschaftliche Herausforderung

Ich weiß, sie schlummern in mir und vergrößern sich gerne durch meine Erfahrungen oder negative Situationen und trotzdem habe ich beschlossen – heute mal nicht. Heute wage ich ein Experiment: Einen Tag ohne Vorurteile.

Los geht`s. Gekonnt weiche ich jedem Lästerleckerli aus, das mir hingeschmissen wird. „Hast du schon gehört? Die da drüben? Puh, also meins wäre das nicht“.

Ach es läuft super. Selbstbewusst, aufrecht und voller Motivation gestalte ich meinen Tag.
Und dann wird es Abend. Ich bring mein Kind zum Tischtennistraining und lasse ihn an der Busschleife raus, da ich sonst nirgends einen Parkplatz finde. Fröhlich hüpft er aus dem Auto und ich fahre zurück nach Hause.

Beim Abholen war es neblig, kalt und gefühlt noch dunkler als die letzten Abende und natürlich fand ich wieder keinen Parkplatz. Während ich so suchte, beäugten mich 3 junge Männer, die mit ihrem Auto in der Busschleife standen. Sie tranken etwas und stellten die Dosen auf den Kofferraum.
Ich musste leider direkt hinter ihnen stehen, da nichts frei war und sie schauten die ganze Zeit zu mir herüber. Ich fühlte mich unwohl, mein Puls stieg. Ich bleibe auf jeden Fall im Auto, dachte ich.

Dann ging auf einmal mein Auto aus. Licht aus, Radio aus, alles dunkel. Das Auto war abgeschaltet.
Die jungen Männer schauten zu mir herüber. Dann zeigte ein Mann auf mich und das Auto war wieder aufgeschlossen. ‚Moment, was passiert hier?‘ denke ich, als der Mann auf mich zukommt. Ich öffne die Fahrertür und er fragt: „Ist das Ihr Autoschlüssel?“
„Äh, ja“. Antworte ich.

Der lag hier und wir wollten ihn gerade zur Polizei bringen. Erleichtert atme ich tief durch und überlege, wie es passieren konnte. Beim Aussteigen muss mein Kind so schwungvoll den Rucksack mitgenommen haben, dass der Ersatzautoschlüssel mit herausfiel. Natürlich unbemerkt.

Ich stelle fest, in dieser Stresssituation waren sie wieder voll da, meine Vorteile. Männer, die einen anschauen, Dunkelheit, sonst keiner da. Das können keine guten Absichten sein. Warum haben sie mich so genau angeschaut? Weil sie überlegten, ob ich nach dem Schlüssel suchte. Die Automarke passte zur Schlüsselkarte.
Getränke auf dem Kofferraum. Nein, nicht mein vermutetes Bier, sondern Fanta.

Klasse Farina, Experiment gescheitert und zwei Erkenntnisse des Tages:

  1. Lasse deinen Ersatzautoschlüssel nicht auf der Sitzbank liegen.
  2. Akzeptiere, dass jede*r Vorurteile hat und man sie nicht einfach zu Hause lassen kann, aber lüfte mal öfters deine Vorurteilsschubladen durch.

83,5 Millionen Menschen leben in Deutschland (destatis.de), und wenn ich dann davon ausgehen kann, dass jede*r von uns mehr als ein Vorurteil in sich trägt, dann kommt da eine beachtliche Zahl an Vorurteilen zusammen. Diese können, schließen sich Menschen gleicher negativer Vorurteile zusammen, eine toxische Atmosphäre in unserer Gesellschaft schüren. Ein gesellschaftlich, friedfertiges und demokratisches Miteinander kann so ins Wanken kommen.

Ich möchte nicht, dass es die „social norm“ wird, dass wir Menschen kategorisch ausschließen, weil sie aus einem anderen Land kommen. Das Frauen Rechte abgesprochen werden, weil sie Frauen sind. Das jungen Menschen unterstellt wird, gar nicht mehr arbeiten zu wollen und nur am Handy zu hängen.

Und auch ich muss lernen, mit meinen Vorurteilen umzugehen, sie zu kennen und wie bei einem Wohnungsputz auch diese Schubladen regelmäßig zu entmotten und zu lüften.
Dafür braucht es politische Bildung. Es braucht Räume, Austausch und Diskurs über politische Themen. Denn alles ist politisch. Ja, alles, auch ein Tisch. Nämlich dann, wenn ich hinterfrage, unter welchen Arbeitsbedingungen er produziert und mit welchen Rohstoffen er hergestellt wurde.
Schaffen wir diese Räume der politischen Bildung in der Gemeinde, im Jugendverband, im heimischen Wohnzimmer.

Wenn Sprache Wirklichkeit schafft, sollten wir lernen die Sprache von Menschlichkeit und Nächstenliebe zu sprechen, statt Hass und Hetze.

Wie treffend sind da die Worte des Talmuds, eines der wichtigsten Bücher des Judentums:

„Achte auf deine Gedanken, denn sie werde Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.“

Farina Köpke
Mehr Beiträge anzeigen

Ich war bis 31. Januar 2025 Bildungsreferentin im Landesjugendpfarramt Oldenburg und pädagogische Leiterin des Landesjugendpfarramts.